Der Staat muss eine Strategie vorlegen
Deutschland ist bisher im Vergleich zu anderen Ländern verhältnismäßig glimpflich durch die Pandemie gekommen. Einer der Gründe dafür sind neben der Leistung von Ärzten und Pflegepersonal die Gesundheitsämter. Man mag sich kaum vorstellen, wie die Lage nach acht Monaten Pandemie ohne die regionale Organisation und den Einsatz der Mitarbeiter in den lokalen Gesundheitsämtern aussehen würde. Und dennoch: An vielen Stellen herrscht mittlerweile leider großes Chaos. Es mangelt an gut ausgebildetem Personal, die Mitarbeiter kommen mit der Kontaktnachverfolgung der Infektionen nicht mehr hinterher. Aber das ist nicht das einzige Problem: Viele Menschen besonders in Ballungszentren, die Symptome haben oder in Kontakt mit einer infizierten Person waren, bekommen keinen Test. Wer glaubt, Corona zu haben, findet auf den unzähligen Seiten und Hotlines kaum noch eine klare Information. Ich selbst habe auch großes Durcheinander erlebt: Obwohl ich in Kontakt mit einem Bekannten war, der an Corona erkrankt ist, wurde mir von einem Test zunächst abgeraten und sogar empfohlen, zur Arbeit zu gehen. Im Internet und auf den Seiten der Bundesregierung habe ich nur widersprüchliche Informationen gefunden, ich wurde sogar auf den Podcast der Bundeskanzlerin hingewiesen – das hat mir natürlich kein bisschen weitergeholfen! In der Zwischenzeit hatte ich mich schon freiwillig in Quarantäne begeben. Als ich mich schließlich testen lassen konnte und ein positives Ergebnis erhielt, war es erst möglich, das Ergebnis in die Corona-App zu laden, als ich mich mit dem IT-Dienstleister des zuständigen Labors unterhalten habe.
Dass mittlerweile an vielen Stellen Chaos herrscht, liegt nicht an den Gesundheitsämtern – mein Gesundheitsamt vor Ort hat mir sehr weitergeholfen. Ich halte es vielmehr für ein Versagen von Bund und Ländern, das auch durch den zweiten Lockdown nicht besser wird. Wir brauchen einen starken, funktionsfähigen Staat dort, wo er die Krisenbewältigung aktiv und selbst unterstützen kann. Doch zurzeit ist unser Staat genau dort am schwächsten, wo er am dringlichsten gebraucht wird: nämlich in der pragmatischen Organisation des Gesundheitsschutzes. Dort, wo er Freiheiten und Grundrechte einschränkt, ist er dagegen umso stärker. Dabei müsste es doch genau umgekehrt sein: Mehr Staat bei der Koordination des Gesundheitsschutzes und weniger staatliche Eingriffe in Freiheiten und Grundrechte.
Leider mangelt es Union und SPD im Bund an einer langfristigen Strategie für die Bewältigung der Corona-Pandemie. Ein Lockdown, der die Grundrechte einschränkt und der Wirtschaft massiven Schaden zufügt, darf immer nur das letzte Mittel sein – und auch dann brauchen die Menschen eine klare Perspektive für die nächsten Monate. Deswegen muss der Staat jetzt die Infrastruktur des Gesundheitsschutzes stärken, statt sich immer neue Ideen für die Einschränkung von Freiheiten auszudenken.
Als erstes brauchen die Gesundheitsämter mehr Unterstützung. In Krankenhäusern wird immer angegeben, wie viele Kapazitäten es gibt. Genauso muss für die Gesundheitsämter klar sein, wie viele Stellen besetzt sind und wo Bedarf ist. Diese Stellen müssen flächendeckend durch Bundeswehr, Technisches Hilfswerk und Beamte aus den Ministerien besetzt werden. Viele Ämter werden schon unterstützt, aber es reicht nicht, wenn ein Großteil der Fälle nicht mehr nachverfolgt werden kann.
Wichtig ist auch, dass die Testmöglichkeiten erweitert werden. Wer schon vor dem Corona-Test nur Chaos erlebt, wird möglicherweise nicht darauf bestehen und das Virus unwissentlich in seinem persönlichen Umfeld verbreiten. Dabei sollte jeder, der in Sorge um sich und seine Angehörigen ist, schnelle Gewissheit bekommen. Viele Arztpraxen sind völlig überlastet. Deswegen muss der Staat dafür sorgen, dass mehr Testzentren geschaffen werden. Genauso wichtig ist es, dass es transparente und eindeutige Informationen gibt. Viele Menschen wissen gar nicht, wo sie sich informieren sollen oder welche Ärzte im Umkreis einen Test anbieten. Wir brauchen eine bundesweit einheitliche Website, die eine Übersicht über alle Anlaufstellen bietet und die Betroffenen darüber aufklärt, wie man sich im Fall der Fälle verhalten soll.
Ein weiteres großes Problem, das dringend behoben werden muss, sind die Mängel bei der Corona-WarnApp. Die Entwicklung der App hat lange gedauert und viel Geld gekostet, aber trotzdem hilft sie nicht bei der Nachverfolgung von Infektionen. Deswegen müssen die Prozesse hinter der App schnellstmöglich digitalisiert werden, sodass Gesundheitsämter und Labore besseren Zugriff bekommen. Die Labore brauchen einheitliche Anweisungen, damit die Testergebnisse unkompliziert in die App übermittelt werden können. Ein Blick in andere Länder wie Irland oder Finnland zeigt, dass es besser geht. Die irische Corona-App bietet mehr Funktionen, wie beispielsweise eine persönliche Symptom-Verfolgung und wird im Verhältnis zur Bevölkerung von mehr Menschen genutzt als bei uns. Nur so kann die App auch wirklich helfen – wenn viele Menschen sie nutzen und ihre Testergebnisse eintragen.
Ein Teil-Lockdown, wie wir ihn gerade erleben, wird nicht die gewünschten Resultate bringen. Die Zahlen stagnieren zwar, aber ohne eine Strategie werden wir sie nicht eindämmen können. Es wäre besser gewesen, die Gastronomie, den Tourismus und Freizeiteinrichtungen geöffnet zu lassen. Denn dann hätten die milliardenschweren Entschädigungsleistungen in den Gesundheits- und Katastrophenschutz investiert werden können. Ich hoffe, dass die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten beim kommenden Treffen eine langfristige Strategie und zielgerichtete, verhältnismäßige Maßnahmen vorlegen werden.