Christian Dürr

Zur Gaskrise darf keine Stromkrise kommen

Christian Dürr
Foto: Tobias Koch

Es ist nicht unsere Absicht, die alte Debatte neu aufzurollen: Dass wir langfristig aus der Kernenergie aussteigen, ist beschlossene Sache und breiter gesellschaftlicher Konsens. Allerdings ist es so, dass uns aufgrund des russischen Angriffskrieges in der Ukraine Engpässe bei der Energieversorgung drohen. Dabei geht es nicht um die Frage, ob unsere Wohnzimmer im Winter 22 oder 19 Grad haben werden, sondern um die Funktionsfähigkeit von Lieferketten, die Frage, ob die Grundstoffindustrie produzieren kann, ob beispielweise Dialyseschläuche für Krankenhäuser zur Verfügung stehen. Wer also etwa von „Frieren für die Freiheit“ spricht, hat das Problem nicht verstanden, denn es betrifft uns alle gleichermaßen, wenn die medizinische Versorgung auf dem Spiel stünde oder Supermärkte nicht mehr beliefert würden. Im Industrieland Deutschland ist es daher oberste Aufgabe der Bundesregierung, eine gesicherte Energieversorgung zu gewährleisten. Mithin ist es vollkommen richtig, dass sich der Bundesenergieminister Robert Habeck aktuell mit Nachdruck darum kümmert, eine Knappheit im Winter zu vermeiden.

Russland liefert bereits jetzt bedeutend weniger als die vertraglich vereinbarten Mengen Gas nach Deutschland. Es bleibt zu befürchten, dass die Gaslieferungen bald vollends ausbleiben könnten. Dafür müssen wir gewappnet sein und die Erdgasspeicher jetzt möglichst schnell füllen – damit wir auch einen besonders kalten Winter ohne russisches Gas überstehen können. Allen voran bedeutet das, Strom nicht länger mithilfe von Gas zu produzieren, wie das immer noch passiert, beispielsweise wenn in der dunklen Jahreszeit weniger Energie durch Erneuerbare Energien erzeugt wird. Das ist aber nur zu schaffen, wenn die Kernkraftwerke länger am Netz bleiben als geplant. Dabei reicht auch ein Streckbetrieb mit alten Brennstäben, wie ihn einige fordern, nicht aus, weil die Kernkraftwerke dann nicht unter Volllast Strom produzieren können. Damit würde man den Betrieb der Kernkraftwerke nur zeitlich verlängern – ohne dabei zusätzliche Strommengen zu produzieren. Das halte ich nicht für zielführend. Angesichts der drohenden Versorgungsengpässe werden wir nicht nur diesen Winter überstehen müssen, sondern auch den nächsten. Daher sollten wir uns bereits jetzt darauf verständigen, die deutschen Kernkraftwerke bis zum Frühjahr 2024 weiter zu betreiben. Das muss jetzt zügig entschieden werden: Um den Weiterbetrieb ab dem nächsten März sicherzustellen, müssen wir in den nächsten Wochen neue Brennstäbe bestellen.

Im Übrigen ist die Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke auch eine Frage der europäischen Solidarität. Nicht nur Deutschland steht vor einer schweren Energiekrise, sondern ganz Europa. Wir haben Glück, denn die EU hat seit Beginn des russischen Angriffskrieges ihren Zusammenhalt bewiesen und tut dies auch weiterhin. Mit dem Europäischen Energiebinnenmarkt steigt die Versorgungssicherheit für alle. Davon profitiert Deutschland nicht nur in dieser Krise, sondern schon seit vielen Jahren. Unsere europäischen Partner leisten viel, etwa durch erhöhte Erdgasförderung. Ich wüsste nicht, wie wir ihnen angesichts dessen erklären sollten, dass wir sichere Energiequellen aus ideologischen Gründen abschalten, während Frankreich mit einem Bein in einer Stromkrise steht. Wir müssen jederzeit in der Lage sein, Strom an unsere Nachbarn zu exportieren – unsere europäischen Partner werden möglicherweise auf Lieferungen aus Deutschland angewiesen sein, so wie wir auf Gaslieferungen aus dem Ausland angewiesen sind. Die Laufzeitverlängerung der deutschen Kernkraftwerke wäre daher ein wichtiges Zeichen der europäischen Verbundenheit. Das gilt umso mehr angesichts der Tatsache, dass die EU erst kürzlich beschlossen hat, auf den verschärften russischen Wirtschaftskrieg mit einer kollektiven Einsparanstrengung  zu reagieren und den Gasbedarf um 15% zu senken. Wer Solidarität genießt, muss seinerseits alles tun, um möglichst wenig davon in Anspruch nehmen zu müssen und im Notfall auch selbst solidarisch zu sein.

Es kommt jetzt auf jede Kilowattstunde an, um Energieengpässe im Winter zu verhindern. Es ist klar, was zu tun ist – wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.